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Ausatmen
10.05.2023
Es gibt viele schöne Texte über das Atmen. Dieser von Shunryu Suzuki gehört zu meinen liebsten.
Gemütsruhe
Zuerst übt, sanft auszuatmen und dann einzuatmen. Gemütsruhe liegt jenseits des Endes der Ausatmung. Wenn ihr also sanft ausatmet,ohne dass ihr auszuatmen versucht, dann tretet ihr in die vollständige Ruhe eures Geistes ein. .. Wenn ihr auf diese Weise ausatmet, dann wird die Einatmung an diesem Punkt ganz natürlich einsetzen. All das frische Blut, das alles von außen heranträgt, wird euren ganzen Körper durchdringen. Ihr werdet völlig erfrischt. Dann beginnt ihr wieder auszuatmen, dieses frische Gefühl in die Leere auszudehnen. So fahrt ihr Moment für Moment fort, ohne zu versuchen, irgend etwas zu tun…..
…..Wenn ihr ohne Mühe einatmet, dann kommt ihr ganz natürlich, mit einer
gewissen Farbe oder Form, zu euch selbst zurück….Der wichtigste Punkt ist eure
Ausatmung.
Shunryu Suzuki, Seid wie reine Seide und scharfer Stahl
ISBN: 978-3-453-70036-9, Seite 19
Atem
04.04.2023
Gerade fand im beim Durchstöbern alter Unterlagen diesen Text von Alexander Solschenizyn aus den Achtzigerjahren. Ich finde ihn erschreckend aktuell und zugleich fühle ich mich diesem Atem, von dem Solschenizyn spricht, sehr nahe und verbunden.
Das Atmen
In der Nacht hat es ein wenig geregnet, und jetzt ziehen noch die Wolken über den Himmel, und ab und zu kommt es ein wenig feucht von oben. Die kleinen Tropfen rieseln gleich auf die rußigen Schornsteine und auf die zerschundenen Dächer unserer vier fünfstöckigen Häuser, die sich um einen quadratischen Hof schließen. Der Hof ist ziemlich groß und vom Regen sehr schmutzig. Und doch hat er etwas sehr Schönes in sich: In der Mitte des Hofes liegt ein rundes Fleckchen lockerer Erde, die von größeren Steinen umsäumt ist. Drei Apfelbäume wachsen in diesem Kreis, und ihr Rauschen im Wind ist wie ein Flüstern der Freiheit von draußen. Denn es ist ein Gefängnishof, und wir machen dort heute einen keinen Spaziergang.
Ich stelle mich unter einen blühenden Apfelbaum und atme, atme….
Nicht nur der Apfelbaum, auch die Gräser tropfen vom Regen, und es gibt keinen Namen für diesen süßen Duft, der die Luft durchtränkt. Ich ziehe diesen Duft mit der ganzen Lunge ein, ich spüre sein Aroma mit der ganzen Brust und ich atme, atme – mal mit offenen , mal mit geschlossenen Augen, und ich weiß nicht, was besser ist….Aber ich spüre die Freiheit!
Ist das vielleicht ein Merkmal, dass ich irre bin? Man sagte mir und allen diesen grauen Gestalten, die über den Hofschleichen – wir seien irrsinnig, geisteskrank, unwürdig in Freiheit zu leben…
Aber hier, unter diesem Apfelbaum, hat man noch das Gefühl der Freiheit, dieser einzigen, allerbesten, allerkostbarsten Freiheit, die wir im Gefängnis so entbehren..
Also atmen, tief atmen, hier unter diesem Apfelbaum! Keine Speise der Welt, kein Wein, ja, sogar kein Kuss einer Frau ist mir süßer als diese Luft, diese Luft, getränkt von Blühen, Feuchtigkeit, Frische.
Drei Bäume auf dem Gefängnishof – es mag noch so winzig sein, aber es ist ein Gärtchen! Ein Gärtchen, das zwischen fünfstöckigen Häusern eingeklemmt ist, die an Tierkäfige erinnern.
Man hat uns in diese Käfige eingesperrt, will wir frei fühlten, frei dachten und frei redeten.
„Aber das ist gerade die große Verirrung des Geistes“ sagte ich ironisch und zugleich traurig zu mir selbst, „die Krankheit, die Freiheitsliebe heißt und auf die hin man uns verurteilte…
Für wie viele Jahre?
Ich ziehe nochmals diesen süßen Duft unseres kleinen Gärtchens aus drei Apfelbäumen tief in meine Lunge ein und freue mich wie ein Kind:
„Draußen hintern den großen Mauern des Gefängnisses höre ich das Hupen der Wagen, das Geheul der Radios und das Geplärr der Lautsprecher…Aber ich brauche das alles nicht: Solange man atmen kann, nach dem Regen, unter einem Apfelbaum, solange kann man ja noch leben!“
(Aus dem Russischen übertragen von M. A. Misevicius)